Diese Albumveröffentlichung kann ich nicht anders als eine Sensation bezeichnen. Nie hätte ich in meinen kühnsten Träumen erwartet, dass der unvergleichliche André Heller noch einmal ein Album mit neuen Liedern aufnimmt. Doch jetzt ist es geschehen, der von mir hoch verehrte Meister der Lied gewordenen Poesie schenkt uns 35 Jahre nach seiner letzten Veröffentlichung das Album „Spätes Leuchten“ und das zeigt den Wiener noch einmal auf dem Olymp seines künstlerischen Könnens.
Schon als Jugendlicher habe ich mich mit Hellers wunderbarer Lyrik infiziert, bin süchtig geworden nach Versen wie „Sei Poet, spring einen Salto in die Alphabete“, habe mich unsterblich verliebt in Zeilen wie „Die wahren Abenteuer sind im Kopf und sind sie nicht im Kopf, dann sind sie nirgendwo“. Heller war und ist ein Verbaljongleur erster Güte, der in der Tradition österreichischer Schriftsteller wie Gert Jonke, H. C. Artmann und Friederike Mayröcker steht, über ein ungeheures, unverbrauchtes Sprachvermögen verfügend, aus dem er unerschöpflich neue Metaphern, wahre Wortschätze hebt. Ein beseelter Staunender, dem das Träumen an sich nie genug war, der noch für jeden Traum eine, seine künstlerische Realität erfand.
Heller ist ein Tausendsassa der Talente, ein ganz eigener Kosmos an künstlerischen Utopieentwürfen. Was hat dieser große Visionär nicht schon alles auf die Beine gestellt. Von seinen Zirkusfantasien Roncalli, Flic Flac und Afrika Afrika über das Feuertheater in Lissabon, den magischen Vergnügungspark La Luna und die Heißluftballonskulpturen namens Himmelzeichen bis hin zu seinen die Sinne betörenden Botanischen Gärten am Gardasee und in seiner Wahlheimat Marroko. Nicht zu vergessen, sein literarischer Schöpfergeist, der ihn unter anderem mit „Das Buch vom Süden“ einen der schönsten, sinnlichsten, sprachlich verführerischsten Romane des bisherigen Jahrtausends schreiben ließ.
Und jetzt dieses unverhoffte späte Liederleuchten. Nahtlos knüpft Heller mit dem neuen Album an „Abendland“, „Basta“ „Verwunschen“ und Stimmenhören“ an, diese grandiosen Meisterwerke songpoetischer Kunst, in denen Lyrik und Musik kongenial zusammenwirken, von hochkarätigen Instrumentalisten und Sängern begleitet, mit künstlerisch anspruchsvollen Albumdesigns und Liner Notes versehen.
„Spätes Leuchten“ steht als vorzeitiges Lebensresümee am Ende dieser Kette von Liedperlen in bester Chanson-Tradition. Wunderschöne Musik, stimmig komponiert und arrangiert in stilistischer Vielfalt von Edel-Pop über Blues, Jazz und Swing bis hin zu Klezmer, der jüdischen Liedtradition, in der unbändige Lebensfreude und leiderfahrene Melancholie Hand in Hand gehen. Ein Himmelbett aus Noten, in dem Wörter und Geschichten aus ihren Traumwelten erwachen, aus den Kammern der Phantastereien ebenso wie aus jenen der Schrecken.
Heller verhandelt die großen Themen, die im Kleinen, Persönlichen erst ihre wahre Wertigkeit und Relevanz erfahren: Leben, Liebe, Tod, nicht zuletzt das Glück, ein Wort, das der Autor im Kontext des Albums überraschend häufig verwendet. Der Dichter kreist um Worte und um Orte, die für den Gedankennomaden zentrale Lebensmittelpunkte sind: Wien, Venedig, Marrakesch. Allein das dieser Stadt gewidmete Lied ist ein so hell funkelndes Juwel, dass es den Plattenkauf rechtfertigt.
Wie Heller in wenigen Sätzen und poetisch pointierten Bildern diese unvergleichliche Welt von Marrakesch vor den Augen und Ohren des Zuhörers entstehen lässt, ist so sinnlich, dass man am liebsten gleich eine Reise dorthin buchen und die Stadt durchstreifen möchte auf der Suche nach all den Bildern, Stimmen und Gerüchen, denen der Autor mit seinem Sprechgesang Lebendigkeit verleiht. Heller gelingt hier in knapp drei Minuten das, was Literaturnobelpreisträger Elias Canetti 1967 in seinem kleinen Prosaband „Die Stimmen von Marrakesch“ gelang – die bezaubernde Verdichtung eines Moments, einer Impression, die Überwindung der Befremdung durch Anvertrauen, Hingeben, Staunen.
Hellers Sprache ist so erfrischend anders, unverbraucht, sich assoziativ ans Sujet und an seine Protagonisten poetisch herantastend, dass es eine reine Freude am Hören an sich ist, am Zuhören, am sich in Wörtern verlieren, um das darin Gesagte, damit Verbundene selbst zu reflektieren. Hat es je einen sinnlicheren Text zu einem Liebeslied gegeben als in „Hab so Sehnsucht“? Wurde Lebensbejahung je so virtuos vertont wie in „Papirossi“? Kann man jemals besser die Vielfalt und Gegensätze des Lebens zusammenfassen wie in „Es gibt“?
Mehr davon! Die Hymne auf „Venedig“ rettet die Lagunenstadt aus dem Hochwassertrauma dieser Tage. „Mutter sagt“ lässt Hellers Mutter wiederauferstehen, die er bereits als 102jährige im Interview-Band „Uhren gibt es nicht mehr“ würdigte. „Die Wiener Judenkinder“ gehört zu den stets herausragenden Betrachtungen Hellers über jüdisches Leben vor dem Hintergrund von nicht enden wollendem Antisemitismus. „Mein Freund Schnuckenack“ habe ich sofort wieder im Ohr und vor allem das unter die Haut gehende, zu Tränen rührende Lied von „Leon Wolke“, das sich mir tief ins Bewusstsein gebrannt hat.
Und all die anderen, nicht namentlich genannten der insgesamt 16 Lieder des neuen Heller-Albums sind titelgerecht wahre, erhellende Lichtblicke des Liedermachens inmitten der Beliebigkeit der Popkultur. „Spätes Leuchten“ ist ein Ereignis, eine Offenbarung, eine Bereicherung, kurz: ein Wunder, das man gehört haben muss. Eine reifere, reflektiertere und seelentiefere Platte wird man auf absehbare Zeit nicht finden.
Allen üblichen, unvermeidlichen Manierismus-Vorwurfs-Kritikern zum Trotz, die sich jetzt sicher auch wieder wichtig machen wollen mit ihrem Neid und ihrer Missgunst auf das Genie, spricht aus meinen Worten pure Begeisterung und Verehrung für den Künstler und sein Werk. Überschwängliches Schwärmen und eine tiefe dankbare Verbeugung vor diesem Zauberer der Künste.
Lang und hoch lebe André Heller!