Als 1993 das erste, selbstbetitelte Album der britischen Indienband Tindersticks erschien, war ich wie viele schlagartig fasziniert von dieser fast überbordenden Schwermut. War je mehr Seufzen in der Musikwelt als ab diesem Moment? Frontmann Stuart Staples und seine Mitstreiter kultivieren diesen Stil aus Chamberpop und Alternative Rock nun schon seit fast 30 Jahren. Und immer noch macht die tiefe Traurigkeit der Tindersticks einen wehrlos. Man leidet mit und fühlt sich erstaunlicherweise gut dabei.
Auf ihrem 12. offiziellen Studioalbum „No Treasure But Hope“ zelebriert die Band aus Nottingham erneut die Magie der Melancholie in edelstem Klanggewand. Dabei gelingt ihr sogar eines ihrer bisher besten Alben – ein musikalisches Manifest der Schönheit. Sicher kein Zufall, dass der Eröffnungstrack ausgerechnet den Titel „For The Beauty“ trägt, in dem Staples zu einem elegischen Pianothema schwelgt und schwärmt. Die später einsetzenden Streicher erheben den Track zur programmatischen Hymne im Breitwandformat.
Im bereits vorab ausgekoppelten „The Amputees“ trifft man auf ganz eine ganz vertraute Songstruktur, Gitarre und Vibraphon geben den Ton an, Staples barmt darüber hinweg seine Liebeslyrics, die in Breitbandbläser münden. Wer kann schon so eindringlich sehnsüchtig „I miss you so“ schmachten?
Intensität ist seit jeher das Markenzeichen der Tindersticks. „Trees Fall“ mit seinen akzentuierten Gitarrenlicks und der feinen Hornsection steht ganz in dieser von Fans bewunderten Tradition der Band. Orgelakzente und Streicher hinzugefügt und schon schwebt der Song in höhere Sphären. Wahrlich himmlisch!
Und dann – höre ich richtig? – tänzeln Mandolinen im Walzerschritt durchs Ohr. Oh Mann, „Pinky In The Daylight“ ist Dean Martin Amore Attitüde in Reinkultur, von der Staples sich da offenbar hat infizieren lassen. Das schnulzt sich tief rein in die italienisch liebestrunkene Seele. Darauf einen Ramazotti auf Eis zum Abkühlen.
Ein Titel wie „Carousel“ ließe normalerweise eine Lied gewordene Karussellfahrt erwarten. Weit gefehlt. Zu verhaltenen Pianoklängen liegt Staples auf der Ottomane und lässt lieber sepiafarbene Erinnerungen um sich selbst kreiseln als die Sitze irgendeines banalen bunten Fahrvergnügens.
„Take Care In Your Dreams“ ist ein gut gemeinter Rat, dem man nur zu gerne folgt, wenn er so traumwandlerisch sicher instrumentiert daherkommt. Glockenhelle Vibraphonpatterns paaren sich mit Gitarre, Drums und zartem Chorgesang und Stapels empfiehlt dazu, immer schön auf die Stimme des Herzens zu hören. Klar, Binse, aber warmherzig vermittelt.
Weiter zum wunderbaren „See My Girls“, das mein Favorit auf diesem Album ist, schon weil dieser Track die angenehm entspannte Stimmung etwas aufbricht. Eine Triangel klöppelt zu dem leicht fiebrigen Gitarrenspiel, das den Song nach vorne treibt. Eine perfekte Bestandsaufnahme der digitalen Welt ist der Text, in dem Stuart davon erzählt, dass er dem Leben seiner Töchter notgedrungen mehr virtuell als real folgt. Ein Instagram-Foto-Post jagt den nächsten, um für den Vater die Reise in Echtzeit zu dokumentieren. Ungeheuer spannender Track.
In „The Old Mans Gait“ kehrt wieder die wohltuende Ruhe ein, welche die Tindersticks zu verbreiten vermögen wie kaum eine andere Band. Das ist perfekter Chamber Pop, zu dem man gerne mal ein paar Minuten im Schaukelstuhl wippt, ohne sich dabei alt zu fühlen. Wellen rauschen heran wie aufspritzende Gischt der Vergangenheit, die für den Augenblick Gegenwart einfordert.
Sehr catchy, weil mit funky Gitarrenakkorden intoniert, setzt sich „Touch Love“ im Gehör fest. Auch hier tut der kurzzeitige Temperamentsausbruch gut, weil er im Albumkontext verhindert, dass die Band in elegischer Schönheit stirbt. Nein, die Tindersticks sind einfach zu clever, auch nur den Anflug von Langeweile aufkommen zu lassen. Ein dicht gewebter Song mit starker Rhythmusbetonung, Shalala-Chor und Bläserpuder auf die erröteten Wangen.
Der Titelsong zum Abschluss schließt die Klammer zum Eröffungstrack mit ähnlich zarten Pianoakkorden, lässt Staples Raum für sein poetisches Gedankengut, das wie eine Kerze flackert, die sich gegen das Erlöschen wehrt. So klingt es, wenn Trost auf Eleganz trifft. Das alles hat einen Schmelz, der wie zarte Schokolade ins Ohr tropft – bittersüß.
Nach diesem melodienseligen Werk muss ich Stuart uneingeschränkt zustimmen. Es kann keinen größeren Schatz als die Hoffnung geben. Und meine Hoffnung ist, dass die Tindersticks noch viele solcher Glanzlichter aus dem Dunkel zutage fördern. Superb!