Das Gute am derzeitigen Stillstand ist, dass man endlich viel Zeit für die wichtigen Dinge des Lebens hat. Genau, für die kulturelle Grundernährung mittels Literatur und Musik. Damit bin ich auch gleich bei meiner heutigen Leseempfehlung: Akiz „Der Hund“.
Explodierende Geschmackssinne
Die Geschichte um einen Waisenwunderknaben, der von der Dönerbudenaushilfe zum Starkoch aufsteigt, ist spannend und temporeich erzählt. Dieser von allen nur „Der Hund“ genannte Außenseiter ist ein dämonisches Genie. Er verfügt über die teuflische Gabe, aus jedem Gericht eine Geschmacksexplosion zu machen – und sei es nur ein schlichter Salat. Jeder, der seine Kreationen kostet, verfällt ihm und seiner geheimnisumwitterten Kunst.
Der Hund soll jahrelang im Kosovo in einem Erdloch ohne Licht gelebt haben. Ernährt nur durch Brotreste und Kartoffeln, die ihm durch eine Luke gereicht wurden. Diese Exposition nutzt Autor Akiz mit großer schriftstellerischer Raffinesse, um seiner Hauptfigur einen überaus geschärften Geschmacksinn zu verleihen. Oder besser gesagt eine extreme Geschmackssinnlichkeit.
Alle Rezeptoren sinnlich geschärft
Der Hund ist geradezu süchtig danach, alles über jede Zutat zu erfahren und das gesamte Wissen über den Kosmos von Lebensmitteln in seinem Gedächtnis zu archivieren. Aus diesem unerschöpflich scheinenden rezeptorischen Fundus von Herkunft, Transport, Lagerung, Zubereitungsarten etc. komponiert der Hund seine kulinarischen Geniestreiche. Man fühlt sich an Jean-Baptiste Grenouille, den Protagonisten aus „Das Parfüm“ erinnert. Dessen Extrembegabung war ja olfaktorisch ausgebildet.
Eine erzählerische Delikatesse
Akiz erzählt das alles unter dem Brennglas der verdichteten Szenerie einer Sterneküche in einem Nobelrestaurant namens El Cion. Dieses liegt im erbitterten Wettstreit mit einem zweiten um die Vorherrschaft der beiden Gourmettempel. Faszinierend, wie der Autor das alles in einer metaphernreichen, sehr dynamischen Sprache schildert. Beeindruckend, wie Akiz Figuren und Situationen mit wenigen Strichen, teils brutaler Genauigkeit scharf zeichnet, typisiert und charakterisiert.
Der fast übermenschlich anmutende Druck in der Küche, der tägliche Kampf um das perfekte Menü, die rivalisierenden und gleichzeitig auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesenen Mitglieder des Küchenteams, die mitunter bizarren, tierquälerischen Zubereitungsrituale. Das alles wird dem Leser von Akiz höchst spannend, mit delikaten Einblicken in das Seelenleben von Köchen und sprachlich brillant serviert.
So wie es dem kochenden Underdog gelingt, nach und nach alle mit seiner enigmatischen Magie zu verhexen, so gelingt es Akiz, den Leser mit seinem atemlosen, wuchtigen Roman vom ersten Wort bis zum finalen Showdown in den Bann zu ziehen.
Daumen und Gaumen hoch für diese fesselnde Lektüre um einen obskuren Sonderling, die ein wahrer Genuss ist, eine erzählerische Delikatesse.
„Der Hund“ ist im Hanser Literaturverlag zum Preis von 18 Euro erschienen. Und bitte kauft beim Buchhändler vor Ort und nicht online. Jede lokale Bestellung hilft den Buchläden, die gerade um ihre Existenz kämpfen.
https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/der-hund/978-3-446-26599-8/