„Jetzt hat die arme Seele endlich Ruh.“ Dieser oft gehörte Satz meiner Großmutter nach dem Versterben von Menschen, die sehr gelitten hatten, kam mir unmittelbar in den Sinn, als ich gestern die Schlussszene von Julian Schnabels Film „Van Gogh – An der Schwelle zur Ewigkeit“ sah. Vincent, öffentlich aufgebahrt in der Galerie seines Bruders Theo, umgeben von seinen Bildern, bereitgelegt für die Trauergemeinde als Abschiedsgabe.
Dieses bildliche Fazit eines tragischen Lebens ist so stimmig wie alles an Julian Schnabels an Intensität und Dichte kaum zu übertreffendem Film, den ich aus vielen Gründen für ein Meisterwerk halte. Zuvorderst ist er ein Glücksfall künstlerischer Empathie. Weil der Regisseur ganz die Perspektive des Künstlers einnimmt, sich in seine Lebenswirklichkeit versetzt, vertieft und den Zuschauer auf diese Weise in Gedankenwelt und Seelenleben von Vincent eintauchen lässt, Anteil nehmen an seiner Verzweiflung an der Welt, die ihn offenbar nicht verstehen will, nicht verstehen kann, ihn, der seiner Zeit voraus, in den Augen der bourgeoisen Gesellschaft ein Sonderling ist.
Dank der grandiosen schauspielerischen Leistung von Willem Dafoe spürt man diesen Vincent hautnah, sein sich fremd fühlen in der Welt, sein Ringen mit sich und seinem Schaffensdrang, seinem Verständnis von Natur und Gott auf eine ungeheuer intime Weise. Die physische und psychische Anverwandlung dieser inneren Zerrissenheit des Malers gelingt Dafoe auf zutiefst berührende Art – zum Niederknien menschlich. Eine schauspielerische Leistung, die mehr als nur die Oscar-Nominierung verdient gehabt hätte.
Dafoes Verkörperung vermag beim Zuschauer den Eindruck zu schaffen, dem lebendigen Vincent zu begegnen, man spürt seine Obsession und Passion ebenso wie seine Einsamkeit und Verlorenheit, deren einzige Brücken die Liebe zu seinem Bruder Theo und die Freundschaft zu Paul Gauguin sind. Dessen Entscheidung, die bürgerliche Enge – räumlich wie geistig – zu verlassen, erscheint Vincent wie Verrat, beschleunigt die Erkrankung seines Geisteszustandes und führt in die bekannte Selbstverstümmelung seines Ohres.
Die Inszenierung steht der Genialität von Dafoes Darstellungskunst in nichts nach. Schnabel hat den Film gegen jede gewöhnliche Regieregel gedreht mit den Augen eines Künstlers durch die Augen des porträtierten Künstlers. Durch die oft subjektiv eingesetzte Kamera kommen wir Vincent so nah, dass man meint, in seinen Schuhen zu laufen, mit seinem Blick die Natur zu erfassen. Äußerste Intimität, erzeugt durch Mut zum filmischen Extrem. Schnabel nimmt sich die Freiheit, minutenlang nur auf Bilder zu vertrauen ohne jedes gesprochene Wort, ganz auf das Miterleben konzentriert.
Allein die Szene, in der Vincent seine Schuhe auszieht und zu malen beginnt, ist durch die jedes Detail erfassende, teils kippende Kamera ein cineastisches Naherlebnis sondergleichen. Oder die verödete Landschaft von vertrockneten Sonnenblumen, die Endzeitstimmung verbreitet und als dystopischer Gegenentwurf für Vincent berühmtestes Bild der golden leuchtenden Sonnenblumen ein Regiekniff der Extraklasse ist.
Van Goghs Naturbegehungen und -entdeckungen erfährt man subjektiv mit, man findet das Licht des Südens wie durch seine Augen, immer mit einer leichten Linsenunschärfe, als würde man alles mit einer Träne des Glücks im Blick genau in diesem Moment erfahren. Schnabel, selbst Künstler, malt seinen Film auf seine Leinwand des Kinos wie Vincent Farben auf seine Leinwände. Die Regie macht aus der Manie van Goghs Magie.
„Vielleicht sind meine Bilder für Menschen, die noch nicht geboren sind“ erklärt Vincent sich gegen Ende des Films dem Leiter der Nervenheilanstalt Saint-Rémy. Ein einziger Satz nur, der jedoch fasst das ganze Leben und Leiden van Goghs treffend zusammen, das mit dem Schuss aus einer Pistole sein Ende findet, ob suizidal oder durch einen Unfall bleibt bis heute ungeklärt. Schnabel entscheidet sich konsequent für letztere, wahrscheinlichere Interpretation, weil Vincent trotz aller Depression doch ein zutiefst lebenssüchtiger, gottesfürchtiger, demütiger Mann war.
Aber am Ende gibt es auch Licht, das Licht der Sonne, das Vincent so angezogen und inspiriert hat zu seinen wundervollen Bildern. Von Schnabel schlicht genial als gelb leuchte Leinwand inszeniert, mit einem philosophischen Satz von van Goghs Freund Gauguin unterlegt, der verdeutlicht, dass für einen Künstler und sein Schaffen nicht der Geist der Gesellschaft erheblich ist, sondern die Tragweite des eigenen Geistes.
Ganz große Kino-Kunst!
Für alle, die diesen immensen Eindruck vertiefen wollen, hier noch zwei besondere Literaturtipps, die van Gogh und seinem Wesen ebenfalls ganz nahe kommen, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Der fabelhafte Schweizer Schriftsteller Paul Nizon, einer meiner Lieblingsautoren und meiner Meinung nach seit langem einer der würdevollsten Kandidaten für den Literaturnobelpreis, hat als Kunsthistoriker über van Gogh promoviert und kommt mit seiner sprachlich reifen und einfühlsamen Betrachtung des Künstlers ihm und seinem Werk ebenfalls sehr nah.
Paul Nizon: Sehblitz, Suhrkamp Verlag
Zum Zweiten eine flammende Gesellschaftsanklage des Universalkünstlers Antonin Artaud, der selbst durch bohrenden Weltzweifel dem Wahnsinn verfiel und auf Van Gogh aus der Perspektive des unverstandenen künstlerischen Seelenverwandten eine flammende Verteidigungsrede hält.
Antonin Artaud: Van Gogh – Selbstmörder durch die Gesellschaft, Matthes & Seitz