Es muss einen triftigen Grund geben, wenn Euer Ohrtrommler Tom nach langer Abstinenz mal wieder eine Rezension in den Blog hämmert. Die Unterbrechung der Digitaldiät verdankt ihr der Band Naked Lungs und ihrem mitreißenden Albumdebüt „Doomscroll“. Diese Punkexplosion nicht angemessen zu würdigen, wäre ein unverzeihliches Versäumnis.
Vor knapp zehn Jahren war es das letzte Mal, dass mir ein Erstling derart den Kalk aus dem Hirn gepustet hat. Damals war es „Amphetamine Ballads“ (2014) von den Amazing Snakeheads, deren grandioser Mastermind Dale Barclay 2018 leider mit nur 32 Jahren an den Folgen eines Gehirntumors verstarb.
Die Lungs verbindet mit den Snakeheads, dass sie Songs von einer unbändigen Energie und Intensität geschaffen haben, die vom ersten bis zum letzten Ton fesselnd ist. Mit den Tags „Noise Rock“ und „Post-Punk“ ist das musikalische Fanal der Iren auf deren Bandcampseite nur ansatzweise umrissen. Die Musik wirkt zu avantgardistisch, um in gängige Schubladen gepackt zu werden.
No Future Riffs und Lyrics 4.0
„Doomscroll“ gibt dem guten alten Punk einen kräftigen Erfrischungstritt in den Arsch und pusht das Genre wieder ganz nach vorne in die Bedeutungsskala. Das Menetekel „No future“ wird mit unsichtbarer Tinte zwischen die Songzeilen gehämmert, Gitarre von allen Seiten fräsen sich ins tief Gehör, zerren an den Nerven wie der gefürchtete Zahnarztbohrer und Sänger Tom Brady schreit sich nach anfänglich Idylle vortäuschendem Sprechgesang die geschundene Seele aus dem Hals. Und überrascht im finalen Track sogar mit richtig gutem Gesang, der weit mehr als Kreissäge kann.
Selten waren Dissonanzen so stilbildend, verschachtelte Songaufbauten so genial krude, vorwärtstreibende Dynamik so packend. Absolut irre, was die Iren da auspacken.
Dieses famose Debütalbum ist weit mehr als eine Attitüde von Krach, das ist konzentrierte, melodisch strukturierte Wut in kreischendem Vorwärtsdrang. Nicht von ungefähr lautet eine der lyrischen Botschaften „…all we share is a love for rage.“ Rumms, auf die Zwölf!
Und zwar alle 10 Songs, die sämtlich auf gleich hohem Wirkungstreffer-Niveau unerbittlich zuschlagen, bis der Hörer völlig ausgeknockt ist. Aber Handtuch werfen ist nicht, gleich nochmal in den Ring und die nächste Runde einläuten. Endlosschleife und wieder und wieder geht sie ab die wilde „Doomscroll“ Fahrt.
Giftiger Soundtrack für die Handyhölle
Doomscrolling meint bezeichnenderweise das Konsumieren schlechter Nachrichten, die sich manche Jugendlich so lange reinziehen, bis ihr Handy zur Hölle wird. Dürfte genau die richtige Zielgruppe für diesen musikalischen Höllenritt der Newcomer sein, die so gekonnt Gift und Galle spucken, dass irische Erzkatholen wahrscheinlich schon nach dem Exorzisten rufen.
Womit wir schließlich beim Bandnamen wären, der mir vortrefflich gewählt scheint. Denn dass die nackten Lungen schmerzen nach so viel Raserei, dürfte jedem klar werden, der das Album über Kopfhörer auf maximum Volume hört, was eine unbedingte Empfehlung des Ohrtrommlers ist. Also, play it LOUD! LOUD! LOUD!
Nachbemerkung: Dublin ist seit einigen Jahren das Epizentrum progressiver Musik, die das Erbe von Punk und Post Punk auf unique Weise weiterentwickelt. Erst die Fontaines D.C., dann The Murder Capital, jetzt Naked Lungs. Was es mit diesem „Angry New Ireland“ auf sich hat, dazu empfehlen ich einen lesenswerten Beitrag des SPIN-Autors Max Pilley
Oh Mann, wie geil musss es in diesen Tagen sein, einen Probekeller in Dublin zu haben, um seine geballte jugendliche Energie in geilen musikalischen Lärm zu verwandeln.